Frau Berg und die Folgen


„Du warst der Wind in meinen Flügeln, du hast mit mir geweint, gelacht. Ich würd es wieder tun mit dir, heute Nacht!“


Egon Bräumer stocherte missmutig in seiner Suppe. Zum mindestens 1002 Mal an diesem Morgen hatte Monika nun schon ihr Lieblingslied von Andrea Berg angestimmt. So hatte er sich seinen Lebensabend in der Residenz nicht vorgestellt. Seine Ruhe, nichts als seine Ruhe wollte er haben.


Er warf einen grimmigen Blick in die Runde. An den meisten Mitbewohnern schien das Lied mittlerweile abzuprallen. Kaum einer blickte auf. Außer...


Egon überlegte. Wie hieß noch die Frau mit den auffallend großen Ohrringen, die erst vor wenigen Tagen eingezogen war? Eigentlich konnte er sich Namen recht gut merken, auch wenn ihm dies niemand zugetraut hätte. Vor allem dann, wenn die Person jemandem ähnlich sah, den er kannte. Grete, genau, das war der Name. Und sie hatte tatsächlich eine verdächtige Ähnlichkeit. Jetzt sah sie ihn an und schickte ihm ein bezauberndes Lächeln. Egon konnte sich nicht erinnern, wann ihn in den letzten 50 Jahren eine Frau so angelächelt hatte.


Jetzt stand sie auf und kam mit ihrem Rollator hinüber an seinen Einzeltisch. Und zu allem Überfluss war nirgends genügend Platz, als dass er noch mit seinem Rollstuhl hätte flüchten können.


„Hallo Egon, lange nicht gesehen.“


Er nickte betreten. Wenn er sich nur erinnern könnte, wie das damals gewesen war. Hatte er sie oder hatte sie ihn? Wie auch immer, auch wenn es nicht 1000 Mal gewesen war, betrogen hatten sie sich gegenseitig.


„Setz dich.“


Das ließ sie sich nicht zweimal sagen.


„Musstest du damals eigentlich lange warten, bis sie dich befreit haben?“


So langsam dämmerte ihm etwas. Das Fenster im Hochparterre, zu niedrig, um nicht dort einzusteigen, aber zu hoch, um es ohne Hilfsmittel zu erreichen. Die ganze Zeit über hatte er schon ein schlechtes Gefühl gehabt, wenn die Pflegekräfte ihn vom Bett in den Rollstuhl und wieder zurück transferierten. Verdammtes Alzheimer, wenn er sich doch nur erinnern könnte, wie die Sache damals ausgegangen war.


50 Jahre? Gewalt hatte er nie angewendet, darauf war er immer stolz gewesen. Nie irgendwo einbrechen, wo gerade jemand zu Hause war. Was auch immer sie gemacht hatten, es war also mit Sicherheit inzwischen verjährt.


Im Hintergrund stimmte Monika gerade zum 1004ten Mal ihr Lied an.


„Ich bin mit dir so hoch geflogen, doch der Himmel war besetzt.“


Das war es, der Lifter von Gretes Oma, den sie sich als Einbruchswerkzeug ausgeliehen hatten. Und der Himmel war auch besetzt gewesen, genau genommen das Himmelbett im Schlafzimmer im Hochparterre. Da lag schon ein anderes Paar drin und sie hatten nicht einmal die Früchte ihrer Bemühungen genießen können.


Grete hatte noch mit einem waghalsigen Sprung fliehen können, aber er, gefangen im Bauchgurt der Hebevorrichtung, war hilflos zurück geblieben, weil Omas Lifter plötzlich seinen Geist aufgegeben hatte.


Zum Glück war die Besitzerin des Himmelbettes gnädig gewesen. Nachdem er versprochen hatte, ihrem Ehemann nicht zu verraten, dass er sie beim Einbruch mit ihrem Liebhaber in Flagranti erwischt hatte, drückte sie den Notknopf, der ihn auf den Boden der Tatsachen zurück brachte und ihm die Flucht ermöglichte.


Damals hatte er sich also gar nichts zu Schulden kommen lassen. Er überlegte. Eigentlich hatte er doch immer eine weiße Weste gehabt. Nach der dramatischen Viertelstunde zwischen Himmel und Erden hatte er seiner Karriere als Kleinkrimineller abgeschworen.


Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf Egons Gesicht aus.


„Alles gut“, brummelte er vor sich hin. In diesem Moment kam Monika wieder am Ende ihres Refrains an.


„...ich würd es wieder tun mit dir, heute Nacht!“


„Was meinst du, wollen wir heute Nacht noch mal tun? Ich kenne ein schönes Fenster im Hochparterre und dieses Mal nehmen wir eben deinen Lifter.“


Und so hielten sie es dann mit Andrea Berg.